Liana hatte die ganze Nacht wach gelegen. Sie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Gleich einer wiederkehrenden Diashow sah sie ihn in verschiedenen Situationen vor sich.
Traian!
Sie erinnerte sich an seine faszinierenden, hellbraunen Augen, halb verdeckt von seinen wirren dunklen Haaren. Damit wirkte er so geheimnisvoll, als wolle er nicht alles über sich preisgeben. Zwischen den Strähnen waren ihr diese megalangen dichten Wimpern aufgefallen und dann seine verführerischen Lippen, von denen sie sich jetzt so gern küssen lassen würde. In ihren lebhaften Erinnerungen hörte sie seine raue Stimme, die leisen Worte, die er ihr mit auf den Weg gab.
Nein, Traian wirkte nicht nur geheimnisvoll, er war es. Sein Auftreten verriet etwas Würdevolles, etwas Majestätisches. Liana dachte daran, wie er Klingberger fertiggemacht hatte, das beeindruckte sie noch immer. Wie geborgen, wie sicher musste man sich an seiner Seite fühlen. Vor Klingberger brauchte sie sich zurzeit nicht fürchten, der befand sich in Traians Gewalt, aber was er wohl mit ihm anstellen wird? Liana fiel ein, wie Klingberger von einer gemeinsamen Zeit mit Traian sprach, obwohl er nicht wusste, wie er hieß. Sie bemerkte, wie sie darüber den Kopf schüttelte. Das war zu merkwürdig. Wenn man mit jemandem zusammenarbeitete, kannte man doch den Namen und wenn es nur der Vorname war.
Ja, Klingberger konnte einem gut das Gefühl vermitteln, ein Niemand, ein Nichtsnutz zu sein. Vermutlich hatte er Traian ignoriert. Bettina erzählte ab und zu ganz entzückende Geschichten über Klingberger.
Bettina! Noch immer war sie unerreichbar. Liana versuchte wenigstens drei Mal am Tag, sie auf dem Handy zu erreichen. Vergeblich. Klingberger, dieser Mistkerl, er hatte Bettina möglicherweise verschleppt und eingesperrt, um den Aufenthaltsort von Veit zu erfahren. Vielleicht war Traian ihm auf die Schliche gekommen. Bestimmt war er ein Polizist. Augenblicklich waren sie wieder da, ihre wachen Erinnerungen an Traian, an den geheimnisvollen Glanz in seinen Augen. Wie sollte sie ihn wiedersehen? Sie konnte ja schlecht jedes Mal in den Wald gehen, um ihn zu treffen. Jetzt musste sie aber mal auf andere Gedanken kommen, weg von Traian, von Klingberger, von Bettina. Im morgendlichen Fernsehprogramm suchte sie Ablenkung. Sie schaltete die Kanäle rauf und runter, ohne wirklich hinzusehen. Nichts war interessant genug, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. So schien es mehr zufällig, als sie jene Frau aus dem Café gestern, dort in einer Szene erkannte. Liana kam es vor, als würde die Frau sie direkt ansehen. Wieder öffnete sie die Lippen.
»Ich brauche deine Hilfe, du hast ihn gefunden. Nur du kannst ihm helfen!«
Das war zu verrückt. Die zahlreichen Nachtdienste, ihre Erschöpfung zeigten nun ihre Auswirkungen. Sie drehte durch. Liana schloss kurz die Augen. Ganz ruhig. Das sind nur überspannte Nerven. Sie drückte den Knopf der Fernbedienung, um den Fernseher auszuschalten. Einen Moment starrte sie auf die dunkle Mattscheibe, vergewisserte sich, dass ihre Einbildungen fort waren.
Plötzlich zuckte sie beim Klingeln zusammen. Wie wachgerüttelt schaute sie zur Uhr. 6:27 Uhr. Wer sollte sie um diese Zeit am Freitag aufsuchen? Ein heftiges Unwohlsein in der Magengegend machte sich breit. Ungewöhnlich laut pochte ihr Herz, als sie zur Tür ging. Über die Gegensprechanlage fragte sie, wer dort sei. »Bettina«, klang leise eine Stimme über den Lautsprecher. Reflexartige betätigte Liana den Türöffner und riss die Wohnungstür auf.
Endlich ein Lebenszeichen. Augenblicklich spürte sie ihren rasanten Herzschlag. Als Bettina die Stufen langsam hochkam, nicht wie sonst mit ihren schnellen Schritten, bemerkte Liana, wie angespannt sie lauschte, wer da wirklich käme. Dann sah sie Bettina.
»Oh, Gott! Bettina!« Die ganze Zeit über hatte sie sich um Bettina gesorgt, aber dass es so schlimm ausgehen könnte, das hatte sie nicht gedacht. »Komm rein.«
Bettina verbreitete einen stechenden Geruch. Ihre Kleidung war schmutzig und zerrissen, dazwischen erkannte Liana zahlreiche Blutergüsse und Schürfwunden. Dunkle Ränder umrahmten ihre roten Augen.
»Mein ... mein Bruder ist tot.« Ihre Stimme klang heiser. »Nun drohen sie meine Mutter zu töten, wenn ich Veit nicht ...« Bettina brach in Tränen aus. Liana nahm sie in den Arm, um ihr das Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Dann hatte Bettina also doch Familie, aber warum gab es in der Personalakte keinen Vermerk?
Merkwürdig. Womöglich hatte sie sich mit ihrer Mutter zerstritten. Ob Klingberger nur blaffte und der Bruder gar nicht tot war? Dieser ganze Aufwand, diese Demütigung, nur um ein krankes Kind zu bekommen? Das war zu verrückt. Jetzt hatte erst mal Bettina Vorrang, sie gehörte in ärztliche Behandlung und die Polizei einzuschalten, war längst überfällig.
»Was haben sie nur mit dir gemacht?« Obwohl Liana ahnte, was passiert war, musste sie es doch von ihr selbst hören. Bettina löste sich aus der Umarmung, Ihr Gesicht vergrub sie hinter ihren Händen.
Fünf Anläufe benötigte sie, bis sie sprechen konnte. »Sie haben mich in einem Keller eingesperrt.« Sie schluchzte zwischendurch, »wollten wissen, wo Veit steckt. Mario hat mich ...« Ihre Stimme brach. Sie weinte bitterlich. Bettina brauchte das Wort ›vergewaltigt‹ nicht aussprechen. Liana kannte Mario nur als Arbeitskollegen, doch das reichte aus.
»Du musst jetzt endlich zur Polizei gehen, Bettina.« Liana fasste sie bei den Oberarmen.
»Das geht nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber natürlich geht das. Schreckliche Dinge geschehen hier, wie lange willst du diese Verbrecher denn noch decken?« Sie musste Bettina auffordern, diese Sache zu beenden.
»Du hast ja keine Ahnung, worum es tatsächlich geht.« Bettina schluckte, suchte einen Anfang. »I... ich habe vor einiger Zeit einem Team angehört, ... ich kann es dir nicht erklären.« Ihr Körper zitterte.
»Bettina! Ich möchte dir helfen. Aber wie soll ich dich und Veit unterstützen, wenn ich nicht weiß, was hier los ist?«
Bettina wirkte plötzlich wie ausgewechselt, fragte mit fester Stimme: »Wo ist er?«
»Er ist in Sicherheit, mach dir keine Sorgen um ihn.«
Sie sprach sehr laut. »Liana! Sie haben meinen Bruder getötet und nun soll meine Mutter sterben. Das kann ich nicht zulassen. Für diesen Bastard werde ich nicht meine ganze Familie opfern.«
Häh?
Woher kam dieser überraschende Wandel? »Er ist dein Sohn. Wie kannst du nur über ihn so reden?« Andererseits stand Bettina unter enormer Anspannung. Ihr Verhalten zeigte menschliche Reaktionen. Liana war entschlossen nicht nachzugeben, dazu empfand sie zu viel für Veit.
»Was weißt du schon? Wo ist Veit?« Bettina kam nah an sie heran. Liana wich ein Stück zurück.
»Vor fünf Tagen hast du mich angefleht, Veit in Sicherheit zu bringen. Man würde ihm weh tun. Und jetzt verlangst du, dass ich zulasse, ein anämisches Kind zu quälen? Du musst endlich zur Polizei gehen.«
Bettina hob beide Hände in die Luft. »Veit ist nicht anämisch. Er ist ...« Ihre Aussage blieb wieder unvollendet.
»Nein, natürlich nicht. Er bekommt nur zum Spaß regelmäßige Bluttransfusionen.« Bettina hatte viel durchgemacht, sie brauchte einen Lichtblick. »Du wirst jetzt ein Bad nehmen. Ich gebe dir was zum Anziehen und dann sehen wir weiter, in Ordnung?«
Kreischend, wie eine hysterische Geisteskranke, stürzte sich Bettina auf sie.
Ihr Rücken schmerzte.
Es vergingen drei Atemzüge, bis Liana begriff, dass sie auf dem Boden lag, über ihr Bettina. Sie krallte sich in ihre Haare, zerrte daran, begann zu kratzen und zu beißen. Nur mit größter Anstrengung gelang es Liana, sich zu wehren. Sie rollten wie ein verhäkeltes Knäuel über den Teppich. Mal war Liana oben, mal Bettina.
»Du musst mir sagen, wo Veit ist«, kreischte Bettina. Liana sah keinen anderen Ausweg. Sie rammte mit aller Kraft ihr Knie Bettina ans Schambein. Bettina schrie, dabei klang es nach einer Mischung aus Wut und Schmerz. Liana presste Bettinas Handgelenke auf den Boden, kniete sich auf ihre Schenkel.
»Du brauchst Hilfe, Bettina. Du drehst gerade völlig durch.«
Bettina spuckte Liana ins Gesicht. Das reichte jetzt. Mit ihrer geballten Faust schlug sie Bettina auf den linken Wangenknochen.
Ende.
Bettinas Körper erschlaffte. Bewusstlos blieb sie auf dem Boden liegen. Liana stürzte zum Telefon, um einen Krankenwagen zu rufen. Sie gab an, ihre Freundin habe einen Nervenzusammenbruch, sei vermutlich mehrfach vergewaltigt worden. Es dauerte keine zehn Minuten, bis der Rettungswagen vorfuhr und die Sanitäter die Wohnung betraten. Unterdessen kam Bettina langsam zu sich, doch sie wirkte nicht wirklich bei sich. Ohne auch nur einen Ausdruck im Gesicht zu vermitteln, sich zu wehren, ließ sie sich auf die Liege schnallen und abtransportieren. Liana fühlte sich schrecklich, fast ein wenig schuldig, obwohl sie dafür keinen Grund fand. Diese ganze Geschichte mit Veit, Bettina und Klingberger zerrte doch sehr an ihrem Nervenkostüm. Gut, dass sie den Krankenwagen gerufen hatte, denn im Krankenhaus konnte man ihr bestimmt am besten helfen, ihr Gleichgewicht wieder zu finden. Kurz darauf wurde sie von der Polizei vernommen. Sie wollten natürlich wissen, warum Bettina ausgerechnet zu ihr gekommen, was genau vorgefallen war und ob Liana nichts über die Peiniger wüsste. Eine günstige Gelegenheit endlich von Klingberger zu erzählen. Doch all die Überlegungen, die sie schon zuvor verfolgt hatte, kehrten mit der bewegenden Frage zurück, was in diesem Fall dann mit Veit passieren würde. In ihren lebhaften Vorstellungen sah sie ihn in einem großen Saal unter dreißig anderen Kindern im Heim im Bettchen liegen und weinen.
Nein! Das wollte sie verhindern. Veit in diesem Gespräch zu erwähnen, schien ihr falsch, sogar überflüssig. So rückten die drei Beamten nach der Befragung wieder ab.
Liana kehrte ins Wohnzimmer zurück und begann den umgefallenen Stuhl, den Blumentopf, eben das Chaos, das Bettina in ihrer Hysterie angestellt hatte, in Ordnung zu bringen. Unter dem kleinen Couchtisch fand sie einen Schlüssel. Bestimmt war das Bettinas Wohnungsschlüssel. Sie könnte sich dort umsehen, um ein paar Antworten finden. Doch Bettina gegenüber wäre das nicht fair. Außerdem verbot ihre gute Kinderstube, in einer fremden Wohnung herumzuschnüffeln. Gemächlich kehrte wieder Ruhe in ihr Gemüt. Sie hatte Bettina verletzt, ihr weh getan, aber nur, um ihr zu helfen. War das nicht grotesk?
Nein, ihr Verhalten war richtig gewesen. Sie atmete tief durch, schaute dabei auf den ausgeschalteten Fernseher, während sie sich setzte. Für einen Moment sah sie Traians Gesicht darin.
»Ganz ruhig. Du hast auch ein paar Nerven gelassen in letzter Zeit. Schau in den Spiegel.« Liana ging zum Flur, dort würde sie sich selbst sehen und niemand anderen. Wie sie gehoffte hatte, erkannte sie lediglich ihr eigenes Spiegelbild. Doch meinte sie, eine Veränderung zu erkennen. Nur was sah nicht so aus, wie sonst? »Wahrscheinlich bekommst du ja deine ersten Falten, Frau Doktor.« Sie war schlichtweg übermüdet. Ein tiefer Schlaf sollte ihr gut tun. Vorher wollte sie sich aber noch vergewissern, dass es Veit gut ging. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der sie innehalten ließ. Möglicherweise hörte man ihr Telefon ab. Aus Filmen kannte man genügend Möglichkeiten. Eindringlich hatte sie Hannah gebeten, sich nicht zu melden, nur im Notfall. Folglich gab es mit Veit keine Probleme. Gleich am Dienstag hatte sie ein Päckchen mit den Fusionsbestecken aus dem Krankenhaus an Hannah geschickt. Für die Bluttransfusion war gesorgt, alles war bestens und sie konnte sich jetzt hinlegen.
Liana hörte wie aus der Ferne ein Klingeln. Es vergingen einige Augenblicke, bis sie das Geräusch zuordnen konnte. Es war ihr Telefon. Sie musste sich fast ein bisschen zwingen, endgültig aufzuwachen. Ungewöhnlich fest hatte sie geschlafen. Noch leicht schlaftrunken bemühte sie sich zum Telefon. »Majewski.«
Eine helle Männerstimme klang durch die Leitung. »Mein Name ist Sergiu Bucuresti, ich bin Anwalt und vertrete Frau Gartetzky.«
Liana wusste nicht, dass Bettina einen Rechtsanwalt beauftragt hatte. Diese Tatsache überraschte sie. »Frau Gartetzky?«
»Ja, Frau Gartetzky, die Mutter ihrer Arbeitskollegin. Sie sorgt sich um ihre Tochter, die sie seit Tagen nicht mehr erreichen kann. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen?«
Bisher gab es nicht mal eine Telefonnummer zu der Mutter und nun gleich ein Anwalt? Da stimmte doch etwas nicht. Steckte Klingberger dahinter? »Ich bin vermutlich in dieser Sache nicht der richtige Ansprechpartner.«
»Und wer wäre das?« Seine Stimme hatte eine beruhigende Tonlage. Liana fiel niemand ein, wer auch? Sie selbst hatte versucht, Angehörige oder enge Freunde von Bettina ausfindig zu machen. »Hören Sie, sagen Sie mir, wo ich Ihre Kanzlei finde, dann komme ich vorbei.« Den Rechtsanwalt persönlich aufzusuchen, schien ihr der geeignete Weg zu sein. Entweder deckte sie den Schwindel auf oder erfuhr sogar einige Hintergründe zu Bettina, etwas über die Beziehung zu ihrer Mutter.
Er klang, als würde er zögern. »Die Kanzlei war in der Tizianstraße, aber dort hat ein Feuer alles zerstört. Wenn Ihnen das lieber ist, treffen wir uns an einem öffentlichen Ort.«
Und wenn die Sache mit dem Feuer ein Trick war. Der Typ gab sich vielleicht nur als Rechtsanwalt aus. »Das mit dem Feuer tut mir leid. Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber woher soll ich wissen, dass sie die Wahrheit sagen?« Ihr Gesprächspartner drückte sich zu gewählt aus, kam zu sympathisch rüber, um einfach aufzulegen. Aber die Tour schien ihr sehr fragwürdig. Für eine Weile blieb es still.
»Sie haben natürlich vollkommen Recht, Frau Dr. Majewski. Sie rufen am besten Frau Gartetzky an, oder bei der Anwaltskammer. Dort wird man Ihnen Auskunft über mich erteilen oder aber Sie suchen mich zu Hause auf, wo ich Ihnen meine Urkunden zur Ansicht überlasse.«
Jetzt war sie neugierig. »Ich bin für das Erste und das Letzte.« Ein Anwalt, vorausgesetzt er war einer, sollte endlich Licht ins Dunkel bringen.
»Haben Sie die Nummer von Frau Gartetzky? Danach mache ich mich auf den Weg zu Ihnen, wenn es Ihnen Recht ist.« Liana notierte sich seine Anschrift sowie die Telefonnummer der Mutter und beendete das Gespräch. Sie bemerkte, wie gut ihr der Schlaf getan hatte, vor allem, wie ihr Tatendrang erwachte. Sie grübelte nach dem Grund, den Frau Gartetzky veranlasst haben könnte, den Rechtsanwalt einzuschalten. Wahrscheinlich hatte auch die Mutter vergeblich versucht, ihre Tochter zu erreichen. Aber was sollte dabei ein Anwalt bewirken? Als Liana mit Frau Gartetzky sprach, bestätigte diese, mit Herrn Bucuresti in Kontakt zu stehen. Ihr Sohn, Bettinas Bruder, habe ihn wegen einer zweifelhaften Angelegenheit ins Vertrauen gezogen. Die Mutter sorgte sich zuerst um ihre verschwundene Tochter und seit zwei Tagen nun auch um ihren Sohn, den sie ebenfalls nicht erreichte. In ihrer Not hatte sie den Rechtsanwalt angerufen. Liana erzählte ihr dann von Bettinas Nervenzusammenbruch sowie von der Einlieferung ins Krankenhaus. Nach diesen Neuigkeiten hielt die Mutter nichts mehr zurück das Telefongespräch zu beenden, um Bettina sofort zu besuchen. Für Liana gab es eigentlich keinen Grund mehr nach Potsdam zu fahren. Bettina war wieder da, wenn sie sicherlich auch noch einige Zeit brauchen würde, um gesund zu werden, vor allem die Erlebnisse der vergangenen Tage zu verarbeiten und Herr Bucuresti gehörte offenbar wirklich zur Zunft der Anwälte. Sollte er dann nicht vielleicht über die Ereignisse bescheid wissen? Liana war noch freigestellt, sie konnte über ihre Zeit frei verfügen, brauchte keinen Verpflichtungen nachkommen. Seit einer Ewigkeit war sie nicht mehr in Potsdam gewesen, hatte in der letzten Zeit zu viel Dienst aufgebrummt bekommen. Nach dem Besuch beim Anwalt nahm sie sich vor, einen Bummel durch die Altstadt zu unternehmen. Zuvor suchte sie sich aus dem Internet die Anschrift der Kanzlei heraus. Schon allein um die Glaubwürdigkeit dieses Mannes zu testen, fuhr sie zum Tizianweg.
Am massiven Metallzaun einer großzügigen Villa glänzende das Messingschild:
Sergiu Bucuresti
Rechtsanwaltskanzlei für Familienrecht, Gesellschaftsrecht, Handels- und Vertragsrecht und für Verwaltungsrecht
Der Blick zum Haus ließ Liana erahnen, wie es im Inneren aussehen könnte. Die verrußte Fassade über den Fenstern erzählte von den Flammen, die hier hochgeschlagen waren. Ein beklemmender Anblick. Das Haus war im Jugendstil erbaut, mit reichlicher weißer Stuckverzierung auf hellgelbem Putz, hohen großen Fenstern sowie einem großzügigen Erker. Die Treppenstufen aus hellgrauem Granit im Eingangsbereich ließen darauf schließen, dass die Renovierung des Hauses noch nicht lange zurücklag. Dieser Sergiu Bucuresti war tatsächlich ein kanzleiloser Rechtsanwalt. Er hatte also nicht gelogen, gewann damit an Loyalität. Diese Voraussetzung versprach, ein interessantes Gespräch mit ihm zu werden. Liana fuhr nun weiter zur Gregor-Mendel-Straße, seiner Privatadresse. Die Straßen waren am Freitagabend hoffnungslos zugeparkt, sodass Liana ein gutes Stück laufen musste, bis sie das Haus Nummer 7 erreichte. Ein dreigeschossiger Altbau mit ausgebautem Dachgeschoss, der geschmackvoll saniert worden war. Bereits in der ersten Etage stand in der geöffneten Wohnungstür ein Mann Anfang vierzig. Er war ungefähr zehn Zentimeter größer, als Liana mit ihren knapp 170 cm. Er hatte ein eher rundes Gesicht, mit kurzen dunklen Haaren, die schon so manche graue Strähne offenbarten. Ein dezenter Moschusduft lag in der Luft, als Liana auf ihn zuging. Bestimmt hatte er sich frisch rasiert. Sein leicht südländisches Aussehen deckte sich mit seinem Namen, den Liana für kroatisch hielt.
»Frau Dr. Majewski, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich herbemüht haben. Bitte kommen Sie herein.«
Liana reichte ihm die Hand und ging an ihm vorbei in die Wohnung. Dabei kroch ihr ein Hauch von Sandelholz in die Nase. »Eigentlich hätte ich mir den Weg sparen können.« Liana wartete, bis er die Wohnungstür zudrückte und sie ins Wohnzimmer begleitete. Sein hellgrauer Anzug saß perfekt und gab mit seinem rosa Hemd ein anziehendes Bild ab.
»Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
Liana sah in des Anwalts braune Augen. »Bettina ist wieder aufgetaucht. Ich habe ihre Mutter natürlich gleich informiert.«
Herr Bucuresti riss seine Augen auf, sein Unterkiefer fiel ein Stück nach unten. »Das freut mich sehr zuhören. So hat sich zumindest diese Angelegenheit geklärt.« Er hielt kurz inne. »Sie hätten mich nur anrufen brauchen und sich den langen Weg nach Potsdam sparen können.«
»Ja,«, augenblicklich kam Liana ein Gedanke, der ihr mit jedem Moment besser gefiel. Ihr wurde klar, dass sie zu diesem Rechtsanwalt Vertrauen fasste. Er konnte ihr bestimmt helfen.
»Wissen Sie, wenn die Menschen so vor mir sitzen, haben sie in der Regel ein Problem und ich bin dafür da, es zu lösen.« Wie einladend das klang. »Ich werde uns etwas zu trinken holen und dann erzählen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«
Liana nickte. Die Idee mit dem Anwalt hätte ihr schon viel früher kommen sollen. Sergiu kehrte mit einem Holztablett, auf dem Gläser, Saft, Wasser sowie eine Flasche Wein standen, zurück. Wenige Minuten später saßen sich die beiden gegenüber, Liana auf der Couch mit einer Weißweinschorle vor sich und Sergiu auf dem Sessel mit einem Glas Wein.
Aufgeweckt sah er sie an. »Ich habe für alles ein offenes Ohr. Was kann ich für Sie tun?« Er prostete Liana zu. Sie folgte seiner Aufforderung, nahm einen kleinen Schluck, stellte dann das Glas ab. Sie spürte, dass sie auf dem richtigen Weg war. »Kennen Sie sich im Arbeitsrecht aus?«
»Ja, ich hörte von ihrer Freistellung.« Er rückte seine rahmenlose Brille zurecht, die sehr gut zu ihm passte.
Liana stutzte. »So schnell spricht sich das herum?«
Er lächelte kurz. »Um Bettina Gartetzky zu finden, musste ich irgendwo beginnen. Die Station, auf der sie gearbeitet hatte, schien mir dafür ein guter Anfang zu sein. Als ich erfuhr, dass Sie die einzige Arbeitskollegin sind, die mit ihr auch privat Kontakt hatte, rief ich Sie an. Aber nun zur Sache. Was ist vorgefallen?« Jetzt sollte sie versuchen, die Angelegenheit zu erzählen, ohne Veit zu erwähnen.
»Ein Kollege hat eine meiner Diagnosen gefälscht, um mich aus dem Weg zu räumen, was leider wunderbar geklappt hat. Der Chefarzt verlässt sich verständlicherweise auf seine erfahrenen Ärzte und ich habe keine Beweise in der Hand.«
Der Anwalt nickte, »Seit wann arbeiten Sie dort?« Seine ausgeglichene Art und dass er sie nicht gleich für übergeschnappt hielt, schaffte eine gute Basis.
»Seit über einem Jahr. Das ist natürlich eine schlechte Grundlage, zudem ich für eine Fachärztin noch sehr jung und unerfahren bin.« Ihr Mund fühlte sich trocken an. Sie nahm einen Schluck von ihrer Schorle.
»Wie kommen Sie auf die Vermutung, man wolle Sie aus dem Weg räumen?« Er sah sie erwartungsvoll an. »Bisher haben die Kollegen meine Arbeit sehr geschätzt. Nicht, dass Sie den Eindruck bekommen, ich mache keine Fehler, aber ausgerechnet bei jener Patientin lag die Diagnose klar auf der Hand. Zumal ich sie selbst in die Akte eingegeben habe.« Liana konnte sich noch lebhaft an den Tag erinnern, vor allem an die Patientin.
»Sie müssen sich vor mir nicht rechtfertigen.« Sein Lächeln wirkte sehr charmant. »Aber woher nehmen Sie den Verdacht, man wolle sie aus dem Weg räumen?«
Liana presste die Lippen aufeinander. Jetzt ging es ans Eingemachte. Bettinas Mutter vertraute diesem Rechtsanwalt, vermutlich wusste er ohnehin von Veits Existenz. Liana gab sich einen Ruck und erzählte von dem Tag, als Klingberger seinen Sohn bei ihr abholen wollte.
»Dr. Klingberger?« Bucuresti richtete sich hastig auf. »Dr. med. Michael Klingberger?« Der Kerl schien ja einen weitreichenden Ruf zu haben.
»Genau der.«
Er lehnte sich zurück. »Entschuldigen Sie, ich habe Sie unterbrochen.« In seinem Gesicht hatte sich etwas verändert, nur konnte Liana nicht bestimmen, was es war.
»Klingberger machte mir eine Szene, drohte meine berufliche Laufbahn zu gefährden, wenn ich ihm seinen angeblichen Sohn nicht übergeben würde. Veit klammerte sich plötzlich ganz fest an mich, obwohl ich ihn zuvor kaum anfassen durfte. Er mochte Klingberger nicht.« Von seiner Ausgeglichenheit war nur noch wenig übrig. Liana musste ihm etwas erzählt haben, was ihn sehr beunruhigte. Nach seiner Reaktion zu urteilen, hatte es mit Klingberger zu tun.
»Was meinen Sie mit ›angeblichen Sohn‹?« Er zog seine Augenbrauen hoch, als erwarte er, eine Neuigkeit zu erfahren.
»Bettina rief mich nach diesem Besuch an, behauptete mit Veit führe man Tests durch, man würde ihm weh tun. Wissen Sie, Veit leidet unter Anämie, benötigt deshalb regelmäßig Blutkonserven. Jedenfalls drückte sich Bettina ganz merkwürdig aus. Seine Entstehung wäre ein Verbrechen gewesen. Um auf den Punkt zurückzukommen, als ich nach meinen freien Tagen wieder in die Klinik kam, stelle man mich wegen der falschen Diagnose zur Rede.«
Der Anwalt rieb sich die Stirn. »Darf ich fragen, wie alt Veit ist?«
Liana musste lachen, da kümmerte sie sich um diesen süßen Fratz und kannte nicht mal sein korrektes Alter. »Erwischt.« Sie dachte kurz nach. »Ich weiß es nicht genau. Bettina hat Veit in der Charité, wo wir beide arbeiten, zur Welt gebracht. Ich glaube, er war ein halbes Jahr alt, als ich dort anfing.«
Der Rechtsanwalt verlor plötzlich auffallend seine Gesichtsfarbe. Seine aufgerissenen Augen, seine Gesichtszüge wirkten wie erstarrt.
»Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen so blass aus.« Liana saß sprungbereit auf der Couch.
Er befeuchtete seine Lippen. »Was Sie mir da gerade erzählen, ist einfach unfassbar.«
Ein krankes Kind war sicherlich nicht erfreulich, aber so schlimm stand es ja nun auch wieder nicht um ihn. Was kapierte sie hier eigentlich nicht? »Was ist daran denn unfassbar?«
Er wirkte ein wenig verwirrt. »Entschuldigen Sie, ich wurde durch einen anderen Klienten bereits auf Dr. Klingberger aufmerksam.« Seine Lippen verloren immer mehr an Farbe.
»Das bedeutet nichts Gutes, fürchte ich. Sie sehen aber wirklich sehr mitgenommen aus.« Sein Kreislauf spielte verrückt, Liana konnte es in seinem Gesicht erkennen.
»Keine Sorge«, er rieb sich erneut über die Stirn, auf der sich ein paar Schweißperlen bildeten, »ich hatte am Dienstag einen Autounfall. Der steckt mir noch in den Knochen.«
So viel Pech, der arme Mann. »Einen Autounfall? Dann noch das Feuer in der Kanzlei. Da haben Sie einiges hinter sich. Sie brauchen Ruhe.« Sie sollte besser gehen.
»Es geht schon, danke.« Er winkte ab. »Wo befindet sich Veit jetzt?«
Liana spürte Unsicherheit in sich aufkommen. Bei aller Sympathie dem Mann gegenüber, aber das musste vorerst ihr Geheimnis bleiben. »Er ist in Sicherheit. Klingberger wird ihn dort nicht finden.«
Der Anwalt trank einen Schluck aus seinem Glas. »Und die anderen?« Er wirkte zunehmend unruhiger.
»Welche anderen? Außer mir weiß keiner, wo er steckt.« Bettina hatte angefangen, etwas von einem Team zu erzählen. Folglich hatte Klingberger Komplizen. Aber wie viele waren an dieser Geschichte beteiligt?
»Und diese Anämie«, seine Symptome verstärkten sich nicht weiter. Vermutlich fing sich der Anwalt, »was kann man da machen?«
»Ich habe Veit nicht untersuchen können, dazu war weder Gelegenheit noch die Zeit. Es gibt ja verschiedene Arten von Anämie. An welcher Art er erkrankt ist, kann ich nicht sagen. Aber er wird gut versorgt. Solange ich ihn bei mir hatte, war er ganz unauffällig.« In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. »Das ist meins.« Sie nahm das Telefon aus der Tasche und ging ran.
»Lia, Lia!«, klang aus dem Handy.
Ihr schlug Herz gleich höher, als sie die vertraute Stimme hörte, aber ihr war auch sofort klar, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte.
»Hier ist Frau Sperling. Hannah hat sich eine schlimme Nierenentzündung zugezogen. Sie kann zurzeit Veit keine Bluttransfusion geben. Vermutlich muss sie sogar morgen in die Klinik.«
Oh, das klang gar nicht gut. »Das ist ja furchtbar. Ich fahre natürlich umgehend los.«
»So eilig ist es nicht, Frau Dr. Majewski. Wir können noch einen Tag warten. Es tut mir nur für Veit so leid.«
»Unsinn! Hauptsache Hannah wird schnell wieder gesund.« Liana beendete das Gespräch.
»Was Schlimmes?«, fragte der Anwalt.
Wenn Klingberger Komplizen hatte, die sie aber nicht kannte, die ihr womöglich folgen konnten, ohne dass sie es bemerkte, brauchte sie Hilfe. Vor ihr saß, zwar angeschlagen, aber jemand, der mehr als sie zu wissen schien. Veit benötigte eine neue Bleibe. »Sie haben nicht zufällig ein Kinderbett?«
»Veit?«
Liana nickte.
»Wir finden eine Lösung, ganz bestimmt.«
Victor erwachte. Eine unbekannte Energie lag in der Luft. Er spürte deutlich etwas Magisches. Langsam setzte er sich auf. Aus dem Wohnzimmer drangen Stimmen zu ihm, Sergiu hatte offenbar Besuch. Als er den Namen Dr. Majewski hörte, wuchs seine Neugier, was Sergiu inzwischen herausgefunden, vielleicht sogar erreicht hatte. Nachdem sie jahrelang auf der Stelle getreten waren, kamen ihm die Ereignisse der letzten Tage wie ein Geschwindigkeitsrausch vor. Victor sah sich nicht in der Lage zu warten, bis diese Ärztin sich verzogen hatte, zumal diese Person mit ihren magischen Fähigkeiten mehr wissen sollte als er. Ihm gelang es nicht mehr, sich zurückhalten. Er öffnete die Schlafzimmertür, um direkt auf Liana zuzugehen.
»Ich bin außerordentlich erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Victor streckte ihr die Hand entgegen. Liana wirkte perplex, reichte ihm mit großen Augen die Hand. Er drehte ihre Handfläche nach unten, verbeugte sich und küsste sie auf den Handrücken. Ganz selbstverständlich setzte er sich neben Liana auf die Couch, dadurch kam er mit ihrer Aura in Berührung, die ihm einen guten Einblick in diese Person verschaffte.
»Mein alter Freund Sergiu hatte einen schlimmen Autounfall. Ich bin nur hier, um ein wenig auf ihn aufzupassen.« Er hielt kurz inne, als er bemerkte, wie Liana ihn anstarrte. »Ich hoffe, ich habe kein wichtiges Gespräch unterbrochen?«
Sergiu nickte heftig, er klang sogar verärgert. »Doch, das hast du.«
Die Ärztin erhob sich. »Wir haben ohnehin alles besprochen.«
Victor stand ebenfalls auf, dabei trafen sich ihre Blicke. Für Victor war das zu verlockend, er konnte nicht widerstehen. »Sie wollten doch gar nicht gehen. Nehmen Sie wieder Platz.«
Sergiu sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an, unterstrich sein Flüstern mit einer verneinenden Kopfbewegung. »Lass das!«
Frau Dr. Majewski sank auf die Couch zurück.
Sergiu setzte sich aufrecht hin. »Victor, was soll das? Du zerstörst mein Vertrauensverhältnis zu ihr. Das ist nicht nötig. Ausgerechnet jetzt.«
Sergiu war ein echter Freund, aber er war eben nur ein Mensch und verstand von diesen Dingen nicht wirklich viel.
»Ich will nur ihr magisches Potential erkennen.«
»Ihr was?« Er sprang auf. »Das geht zu weit. Du hast ja keine Ahnung, was sie mir gerade alles erzählt hat.«
Victor nahm ihre Hände, schloss dann die Augen, um seine Sinne auf ihr Inneres zu richten. Überrascht flüsterte er mehr zu sich selbst: »Sie benutzt nicht eine ihrer Fähigkeiten.«
Sergiu lief im Zimmer umher. »Gib sie jetzt frei und verschwinde.«
Warum Menschen immer nur so ungeduldig sein mussten? »Gleich.« Victor erkannte ihre Möglichkeiten, gewisse Grenzen zu überwinden, darüber hinaus besaß sie hellseherisches Potential. »Sie ist wie eine Perle. Unter der Schicht der gesellschaftlichen Pflichten schimmert ein magischer Glanz. Ich muss ihr auf den Weg helfen, eine Tür aufstoßen, verstehst du?« Nein, davon verstanden Menschen viel zu wenig, ein Grund, warum ihre Sinne mehr und mehr verkümmerten. Statt ihren Orientierungssinn zu schulen, verließen sie sich auf Navigationsgeräte und anstelle ihre innere Uhr zu benutzen, trugen sie ständig eine tickende Armbanduhr mit sich herum. Außerdem war ihr Geruchssinn kaum ausgeprägt, von ihren jämmerlichen Augen ganz abgesehen.
Sergiu schüttelte den Kopf. Was anderes fiel ihm zu diesem Verhalten nicht ein. Victor war ein wirklicher Freund, aber mit seinem vampirischen Firlefanz konnte er einem das Leben richtig schwer machen. Er setzte sich auf seinen Sessel zurück und sehnte das Ende dieser Prozedur herbei. Geschlagenen sieben Minuten vergingen, bis Victor endlich tief ausatmete.
»Sie sind in der Tat eine faszinierende Persönlichkeit, Dr. Majewski.« Liana blinzelte. Zunächst wirkte sie etwas orientierungslos. Sergiu durfte sich jetzt nur nichts anmerken lassen. Vermutlich wusste diese Ärztin noch viel mehr, als sie bisher verraten hatte.
»Brauchen Sie einen Schluck Wasser?« Er beugte sich leicht über den Tisch. Victor stand auf.
»Es hat mich außerordentlich gefreut, ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Wenn Sie bei Gelegenheit in netter Gesellschaft einen guten Tropfen Wein genießen möchten, kann ich Ihnen mit Rat und Tat gern zur Seite stehen. Sie entschuldigen mich jetzt bitte.« Er verbeugte sich, verließ das Wohnzimmer, kramte kurz im Flur herum und öffnete die Wohnungstür.
Entweder stand die Haustür offen, oder ein Fenster im Treppenhaus war nicht zu, es zog jedenfalls heftig, wodurch das angelehnte Wohnzimmerfenster weit aufschwang. Einige Papierseiten wurden vom Wind erfasst und flogen von Sergius Schreibtisch, verteilten sich flatternd durch die Luft. Als Victor die Tür zuzog, senkte sich das Wirrwarr aus Papieren auf den Boden. Liana beugte sich nach unten, um einen Zettel aufzuheben. Beim Ablegen des Blattes stutzte sie, Sergiu konnte es deutlich sehen.
»W ... was ist das?«
Mist!
Die Namen auf dieser Liste waren ihr vermutlich nicht unbekannt. Ausgerechnet dieses Blatt musste ihr vor die Füße fallen. Sergiu sammelte die anderen Papiere hastig ein, dann schloss er das Fenster. Die junge Frau steckte sowieso schon mitten in dieser Geschichte. Sie da raus zuhalten, war unmöglich, eigentlich auch überflüssig. Aber wie sollte er ihr die Sache erklären, ohne das Wort ›Vampir‹ in den Mund zu nehmen?
»Diese Personen gehörten einem medizinischen Team an, die Versuche durchgeführt haben.« Die Erkenntnisse der letzten Tage wühlten ihn sehr auf.
»Versuche? Was für Versuche?« Liana runzelte die Stirn. Das sah niedlich bei ihr aus.
Sergiu musste tief Luft holen. »Wissenschaftliche Untersuchungen, Experimente an lebenden Objekten.« Die Aufzeichnungen hatten schreckliche Bilder in seiner Fantasie entstehen lassen, die er nicht mehr aus dem Kopf bekam. Das Gesicht der Ärztin wirkte für den Moment wie erstarrt.
»Veit?«, flüsterte sie.
Er nickte. »Ich vermute es.«
Liana fasste sich ans Kinn, murmelte etwas vor sich hin, das wie, »sich dafür hergegeben« klang.
Dr. Majewski war nicht auf den Kopf gefallen, sie würde jetzt viele Fragen stellen, damit sah Sergiu das Problem auf sich zukommen.
»Aber worum ging es in diesen Versuchen? Was hat das Team bezwecken wollen?« So aufgeschlossen die junge Ärztin auch wirkte, die Wahrheit würde sie nicht billigen, nicht heute.
Sergiu knetete seine Hände ineinander, er sah sie an. »Veit darf niemals in ihre Gewalt gelangen. Niemals!«
»Ein anämisches Kind für Versuche? Es gibt hundert andere, warum gerade Veit?« Sie stand auf. »Worum geht es Klingberger wirklich?«
Sergiu war überzeugt, dass die Wissenschaftlerin in ihr, bei dem ersten Wort über Vampire die Flucht ergriff. »Wenn Sie nicht schon längst in dieser Sache mit drinstecken würden, dürfte ich gar nichts erzählen.« Sergiu überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Diese junge Frau war nicht umsonst gekommen. Es gab eine wichtige Aufgabe für sie, wenn er auch noch nicht richtig wusste, welche. Er erzählte ihr kurz vom Verschwinden der Familie Constantinescu. »Gestern öffnete ich wegen des Todes eines meiner Klienten ein bedeutendes Päckchen. Darin befanden sich Unterlagen, die uns über den Verbleib genau dieser Familie aufklären. Nicolae und seine Frau Alina wurden im Zuge medizinischer Versuche zu Tode gequält.«
Dr. Majewski wich die Farbe aus dem Gesicht. Sie wirkte erschüttert, ließ sich auf die Couch sinken. »Das ist ja entsetzlich.«
Sergiu griff nach den drei Pässen, die einzigen Zeugnisse, dass diese Familie existiert hatte. »Ja, das ist es.« Er legte die roten Ausweise, mit der goldenen Aufschrift ›Romania‹ auf den Tisch. Unterhalb des Schriftzuges war ein Wappen mit einem Adler abgebildet. In der einen Kralle hielt der Vogel ein Schwert, in der anderen ein Zepter und das heilige Kreuz im Schnabel. Unter dem Wappen stand das Wort ›Pasaport‹. »Ich vermute, um diese Beweise zu vernichten, musste meine Kanzlei dran glauben. Schlimmer dabei ist allerdings, der Tod meines Klienten Matthias Gartetzky. Er war im Besitz dieser Pässe sowie wichtiger Aufzeichnungen über die Untersuchungen. Ohne seinen Tod hätte ich niemals diese Unterlagen geöffnet.« So grausig der Fund der Leiche in seiner Kanzlei war, so hatte das Unglück auch eine positive Seite. »Seit sieben Jahren versuche ich, den Bruder eines rumänischen Landsmannes ausfindig zu machen. Sieben Jahre lang führte ich eine beinah aussichtslose Suche und dann plötzlich scheint es so, als würden die Fakten den Weg zu mir finden. Nicht zuletzt Ihr Erscheinen ist ein wichtiger Bestandteil des Puzzles, das nun ein Bild ergibt.« Sergiu trank einen Schluck Wein. Dieser bewegende Moment, als er die Pässe zwischen den Unterlagen entdeckte, war wieder präsent.
Frau Dr. Majewski schluckte auffallend. »Dann hatte Bettinas Bruder Kenntnis von den Versuchen?«
»Ob damals schon oder erst kürzlich, kann ich nicht sagen. Er hat die zerrissenen Aufzeichnungen teilweise zusammengeklebt. Sie sind auch nicht vollständig, aber die restlichen Beschreibungen reichen aus, um das gesamte Team hinter Gitter zu bringen.«
»Und was hindert Sie dann daran, Ihre Pflicht zu erfüllen?«
Sergiu sah erschrocken auf. Er hatte sich selbst in diese Sackgasse gelenkt. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Seine Menschenkenntnis hatte ihn bisher noch nie getäuscht, Dr. Majewski würde ihm eine Lüge krummnehmen, aber die Wahrheit nahm sie ihm mindestens genauso übel. Mit einem tiefen Atemzug begann er, »Wissen Sie, diese Familie waren … sie …« Er musste sich da rausreden.
Liana saß gespannt auf der Couch. »Ja?«
Umschreiben hieß die Lösung. »Es gibt eben Dinge, die sollte man nicht an die Öffentlichkeit bringen.« Das entsprach schließlich der Realität.
»Wie bitte?« Liana klang überrascht. Mit dieser Antwort hatte sie wohl nicht gerechnet.
Sergius Mund fühlte sich schon wieder sehr trocken an, er trank ein Schluck Wein.
Sie streckte ihre Hand nach den Pässen aus. »Darf ich?«
Sergiu nickte. Er sah keinen Grund, warum sich die junge Ärztin die Fotos, die Namen, nicht ansehen durfte. Beim zweiten Pass zuckte sie sichtlich zusammen. Dann war sie Luca bereits begegnet.
»Sie haben ihn schon mal gesehen?« Dr. Majewski hatte Kontakt zu ihm, deshalb war sie hier.